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Heute habe ich mal wieder einen Klassiker für euch, mit dem ich mich an der Uni intensiv beschäftigt habe: "Oliver Twist" von Charles Dickens. Dieses Buch habe ich für ein Proseminar im Hinblick auf den Atem untersucht. Hört sich schräg an, oder? Immerhin ist das ein Buch und natürlich atmen Bücher nicht. Die Figuren darin aber schon, zumindest in ihrer eigenen Welt. Und ich habe in meiner Arbeit die These aufgestellt, dass sich ihre Atmung unterscheidet und zwar abhängig davon, welcher gesellschaftlichen Schicht sie zuzuordnen sind. Meine Argumentation reichte von Dingen wie dem ständigen Husten Fagins über die Gerüche, denen Oliver in unterschiedlichen Umgebungen ausgesetzt ist, bis hin zum Tod durch Erhängen. Ich sage das nicht oft über wissenschaftliche Arbeiten (außer natürlich vor Professor:innen), aber ich habe es genossen, diese Arbeit zu schreiben. Ich hatte hier die Chance, einen Klassiker mal aus einer komplett anderen Perspektive zu betrachten und musste mich mit Theoretiker:innen beschäftigen, die ich ohne diese Lehrveranstaltung nie kennengelernt hätte. Diese Lehrveranstaltung war für mich "nur" ein Wahlfach, aber ich habe trotzdem das Gefühl als wäre das einer der Kurse im letzten Semester, die mir am meisten gebracht haben.
Nun aber zum lieben Oliver. Von dem haben wir doch alle schonmal gehört, oder? Ich selbst musste Ausschnitte davon im Englischunterricht lesen und habe Teile des Films gesehen. Damals hat mich dieser Roman aber nicht wirklich interessiert. Natürlich nicht, ich war Schülerin. So kam es auch, dass ich nicht mal mehr genau wusste, worum es in "Oliver Twist" geht. Ich wusste, dass Oliver ein Waisenjunge ist und Ärger bekommt, weil er um eine zusätzliche Portion Essen fragte. Das wars auch schon. Dabei ist das nur der Beginn des Romans: Oliver Twist ist tatsächlich ein Waise. Zuerst lebt er bei einer geizigen Pflegemutter, dann wird er in ein Arbeitshaus geschickt und dort als Lehrling an einen Totengräber verkauft. Von dort flüchtet er nach London, wo er gezwungen wird, sich einer Diebesbande anzuschließen.
Ich war überrascht, wie modern sich "Oliver Twist" liest. Vom Stil her hätte dieser Roman genauso gut auch vorgestern erscheinen können. Klar kommen manchmal ältere Phrasen, die ich erstmal nachschlagen musste, aber hätte ich diesen Roman nicht für eine Proseminararbeit gelesen, wäre ich wohl einfach in der Lektüre versunken. Auch wenn Oliver für meinen Geschmack aus moralischer Sicht fast schon ein Heiliger ist und dadurch einiges an Tiefe verliert, hatte die Geschichte ihren Reiz und konnte mich fesseln. Ich kann total nachvollziehen, warum dieser Text auch heute noch bekannt ist und warum er so lange überliefert wurde. Er ist einfach gut geschrieben.
Besonders spannend ist auch der historische Kontext. Wenn ihr also plant, "Oliver Twist" zu lesen, recherchiert davor auch ein bisschen war über die Armengesetze und über Charles Dickens Aufwachsen. Als Jugendlicher musste der Autor nämlich selbst einige Zeit in ein Armenhaus und dort die Schulden seines Vaters abarbeiten. Deswegen hat er sich in seinen Werken auch immer gegen die damaligen Armengesetze Großbritanniens eingesetzt. Super spannendes Thema, über das ich mich gerne eingelesen habe!
Das einzige, was mir als Leserin aus dem Jahre 2022 wirklich unangenehm war, ist der offensichtliche Antisemitismus dieses Werks. Klar, zu Charles Dickens Zeit war so ein Blick auf Menschen anderen Glaubens vielleicht normal. Das ist mir bewusst. Aber wir leben nicht mehr im Viktorianischen Zeitalter und aus heutiger Sicht ist die Darstellung des Antagonisten Fagins (der meistens einfach nur "the Jew" genannt wird) einfach nur unmöglich und fühlt sich falsch an.
Mein Fazit? Interessanter Klassiker, mit dem ich mich gerne beschäftigt habe.